ZUM FISCHER AM GARDASEE MUSS MAN GEBOREN SEIN

ZUM FISCHER AM GARDASEE MUSS MAN GEBOREN SEIN

In Gargnano ticken die Uhren für die Fischer anders: die Maßstäbe setzt der Gardasee. Die Uhrzeiger werden durch das langsame, aber regelmäßige und tiefe Schwimmen der Gardaseefelchen reguliert. In den Kalendern der Fischer sind als Festtage, was selten vorkommt, die Tage markiert, an denen die Gardaseeforellen beschließen, sich finden zu lassen. Ihre Tage wiederholen sich nie gleich, jeden Tag passieren neue unterschiedliche Dinge, die man nur im engen Kontakt mit diesen Fischern wahrnehmen kann.

Die Regeln des Sees sind streng, manchmal erbarmungslos und werden seit Generationen durch die beste Schule weitergegeben: die Erfahrung. Was natürlich große Opfer fordert. Aber, wie ja bekannt ist, große Opfer sind oft die Voraussetzungen für das Erleben einer großen Zufriedenheit. Wie zum Beispiel die, genau die Forelle zu angeln, deren Vorhandensein durch ihre hinterlassenen "Spuren" wahrgenommen wurde. Diejenige, die es schaffte, mehr als einmal aus den Netzen zu entkommen, die eine Jagd mit ausgeworfenen Netzen in Gang brachte und immer knapp entkam, nachdem sie dem Fischer, der die Netze von Hand an Bord des Bootes hisste, die Illusion vermittelt hatte, sie gefangen zu haben. Die Aufregung bleibt trotz der Erfahrung  des jahrelangen Fischfangs immer gleich groß, hauptsächlich dann, wenn von da unten, aus dem tiefen und dunklen Wasser des Sees, die geschickte Hand des Fischers eine Bewegung des Netzes - wie ein kurzer Riss - spürt. Wer weiß, was ihm durch den Kopf geht, während er das "bartabèl" (das Netz) vorbereitet, in der surrealen Stille, die den See während der Angelstunden umhüllt, um drei Uhr morgens, wenn das einzige Licht das Scheinwerferlicht des Bootes ist, bereit, sich dem glatten schwarzen Wasser zu stellen, das für den Fischer nach Heimat duftet.

Es ist eine magische Atmosphäre die den See umhüllt, während alle schlafen und das einzige wahrnehmbare Geräusch das der Motoren der Fischerboote ist, die langsam auslaufen, um die am Vortag ausgeworfenen Netze zu erreichen, in diesem Wechsel von Tag und Nacht, der sich langsam am Horizont verliert. In Wirklichkeit ist es jedoch einfach, ihre Arbeitsrhythmen zu erkennen und sich an ihre Uhrzeiten anzupassen.

Alles fing mit der Nachfrage nach frischem Fisch an. Es ist zum größten Teil der geschäftige Tourismusmarkt, der die Zeiten diktiert. Damit ist klar, dass die wichtigste Saison die Sommerzeit ist.
Der Wecker klingelt lange vor dem Sonnenaufgang.

Es mag traumatisch erscheinen, aber wenn der Schock erst einmal überwunden ist, wenn sich die Augen daran gewöhnt haben, fängt die Magie an: Nur wenn man sie selbst gespürt hat, kann man die Emotionen verstehen, die man empfindet, während der Mond, der sich die ganze Nacht lang eitel im schwarzen Spiegel des Sees reflektiert hat, hinter dem „Pizzoccolo“ verschwindet und den ersten zaghaften Sonnenstrahlen Platz macht, die vom Monte Baldo aufsteigen. Bei den besten Sonnenaufgängen heben sich die schwarzen Figuren der Fischer gegen einen feurigen Himmel ab, während an den Ufern das Leben wieder neu erwacht.

Wenn sie Glück haben und die Nacht nicht sehr windig war, schaffen es Umberto, Luca und Marco gerade noch, so rechtzeitig ihre Netze einzuholen, damit sie mit ihren Familien frühstücken können, bevor sie zur Lieferung der Fische aus dem Haus gehen müssen. Manchmal kommt es nachts zu plötzlichen Gewittern. So hat sich der See entschieden, auch Spaß zu haben: die eigenen Gewässer zu vermischen und die Netze meilenweit zu verschleppen. Dies sind die schlimmsten Tage. Nämlich die, an denen die Fischer hinausfahren, aber nicht wissen, wann sie zurückkommen, denn sie sind zu sehr damit beschäftigt, mit dem „Benaco“ [Gardasee] Verstecken zu spielen, wohl wissend, dass sie Gäste im Garten Eden sind und immer darauf bedacht, seine  Regeln zu respektieren (und sie manchmal ertragen zu müssen).

Um die Mittagszeit herum verlangsamen sich die Rhythmen: Es wird Zeit, nach Hause zu gehen und sich ein paar Stunden auszuruhen. Während die Sonne ihren Zenit erreicht und sich die Strände bevölkern, holen die Fischer ein paar Stunden Schlaf nach. Am späten Nachmittag sind sie dann bereit, die letzte Tätigkeit des Arbeitstages zu erledigen: erneut auf den See hinauszufahren, um ihre Netze auszuwerfen. Es vermittelt eine seltsame Beruhigung, wenn man erkennt, wie sich diese letzte Geste nahtlos an die erste des nächsten Tages anschließt, in einem immer gleichen Ablauf, der aber im Einzelnen und in den unvorhersehbaren Situationen doch so unterschiedlich verlaufen kann.

Während ich dem Rauschen der Wellen an der Fischer Anlegestelle in San Giacomo lausche, denke ich gerne an all die Erinnerungen, die der See in seiner Tiefe eifersüchtig bewacht. Von seinem Kessel aus kann man das Echo der Flugzeuge, die während des Zweiten Weltkriegs den Himmel überquerten, die Verzweiflung derer, die ihre Heimat verlassen mussten, um an die Front zu gehen, wieder auferstehen lassen. Wenn man genau hinhört, kann man die Geräusche der lebhaften Arbeit der Zitrusfrüchte Anbauer wahrnehmen, die sich um die vielen Zitronenhaine an der heutigen „Riviera dei Limoni“ kümmerten. Ich wette, dass sogar D.H. Lawrence, während er in San Gaudenzio lebte und in sich im belebenden Gewässer des Gardasees erfrischte, sich auch durch meine Vorfahren für die in seinem Buch "Italienische Dämmerung" beschriebenen Figuren inspirieren ließ.

Ich stelle mir den Gardasee immer sich selbst treu vor, während er den Film der Geschichte als Zuschauer betrachtet: Urzeit, Gallier, Römer, Langobarden, der Einfluss der Veroneser und dann seine Teilung in zwei gespaltene Hälften. Ich stelle mir vor, wie er friedlich dem Bau von Hafenanlagen und Burgen zusieht, während er die Unterwerfung durch die Visconti und den Aufstieg der Republik Venedig begrüßt. Ich kann mir vorstellen, wie sich seine Gewässer während des Krieges zwischen Venedig und Mailand im 15. Jahrhundert und einige Jahrhunderte später während der napoleonischen Kriege rot färbten. Ich höre die Schüsse aus dem Süden während der Unabhängigkeitskriege. Immer so weiter, bis hin zu unserer Zeit. Ohne sich jemals einzumischen, hat der Gardasee seine vielfältigen Rollen akzeptiert: als Erwerbsquelle bis hin zu seiner Rolle als Grenzlinie und darüber hinaus schenkte er ein echtes mediterranes Klima, das bis heute den Anbau von Oliven und Zitrusfrüchten ermöglicht.

Es ist wirklich tiefe Verbundenheit, was den See mit den „Frans“ verbindet, der Fischerfamilie, die Ende des 18. Jahrhunderts beschloss, von Korsika auszuwandern, um in Gargnano Wurzeln zu schlagen. Diese "Franzosen" (daher Frans) sind zu einem der Symbole des Gardasees geworden, dank der Traditionen, die im Laufe der Zeit und der harten täglichen Arbeit entstanden sind. Und die Zukunft? Sie stellt kein Problem dar: Giovanni, der letzte Abkömmling, versucht, die Bräuche des Hauses Dominici weiterzuführen. Denn wer könnte ein besserer Lehrer sein als der eigene Großvater, Vater und Onkel, die den See wie ihre Westentasche kennen?
 

Aus dem blog “Through Elena’s eyes