Senter del Luf - eine Geschichte

Senter del Luf  - eine Geschichte

Wenn man in die Berge geht macht es Sinn, sich in die Geschichten zu vertiefen, die diese Orte erzählen können, auch, um sie besser erleben und sich mit dieser Umwelt im Einklang fühlen zu können.
Der Bergpfad „Senter dèl Luf“, spektakulär und einsam gelegen, der in Gargnano die Ortschaften Muslone und Briano verbindet, an den Hängen des Monte Denervo (Wegweiser Nr. 45, demnächst umbenannt in Nr. 231B), hat eine bewegende Geschichte zu erzählen, die Geschichte eines tragischen Verschwindens und einer Wiedergeburt. Haben Sie ein paar Minuten Zeit? Wir erzählen Sie Ihnen...

SENTER DEL LUF – EINE GESCHICHTE  

Emilio wusste nicht, was ihm der helle Augusttag bringen würde... Er war früh aufgestanden, in der Morgendämmerung und hatte eine Wasserflasche und wenig andere Dinge in seinen Rucksack gesteckt.
Ein Abenteuer erwartete ihn, ein Traum, den er seit langem heimlich träumte. Er kletterte nun in seiner Aufregung mit einem weißen, langärmeligen Hemd mit hochgekrempelten Hemdsärmeln (es wäre nicht angebracht gewesen, nur ein Unterhemd zu tragen, er hatte immerhin seine Würde zu verteidigen ...) den steilen Saumpfad hinauf, der von Bogliaco nach Sasso und höher führte, denn er wollte die Bergweiden des Berges Denervo erreichen.
Am Bauernhof Cascina Piazza, ein kleines Paradies, verbrachten einige Freundinnen ihre Ferien und an diesem Tag, Samstag, dem 5. August 1911, war es Tradition, die Madonna della Neve zu ehren. Nach der Messe vor der Kapelle wäre es schön gewesen, sich auf die Wiese vor dem Bauernhaus zu legen und in Gesellschaft der Pächter und Talbewohner, die zu diesem Anlass in Scharen auch aus Muslone heraufgekommen wären, einen Imbiss zu sich zu nehmen. Er wollte diesen Tag mit allen verbringen, aber Emilio dachte nicht nur daran...: das Fest wäre nur der Abschluss seines Abenteuers geworden.
Nach der Ankunft in Briano hätte er den einfachen Weg verlassen und wäre auf der unwegsamen Seite des Berges weitergegangen, mit einem tiefen Abgrund zum See runter, um auf dieser Seite nach Piazze hinauf zu steigen. Er stellte sich die Überraschung und auch die Komplimente seiner Freundinnen vor, während er mit großen Schritten auf den Berg zuging, wobei er sein Taschentuch und manchmal auch den Pfad mit Schweiß benetzte und der Prozession von Eseln und Bergsteigern auswich, die schwer beladen in entgegengesetzter Richtung auf dem Saumpfad zum See hinunterstiegen.
Der Bergpfad des Pas dèl Luf, über den er viele Geschichten gehört hatte, ein Weg, der schon durch den Namen Respekt einflößte, übte auf ihn, jung und abenteuerlustig, eine große Anziehungskraft aus. Indem er seitlich den Hang auf einer Spur hinunterging, die eher für eine  Ziege als für einen Menschen gedacht war, mit dem darunter liegenden schimmernden See, der aussah, als wolle er ihn aufsaugen, hätte er kurz vor dem vorstehenden Dòs da Te abweichen wollen und, von den Erzählungen der Bergsteiger, aber auch von seinen Träumen beflügelt, hatte er vor, durch die Schluchten der weißen Klippen zu klettern, um zum Waldstück, dessen rausragenden Äste da oben zu sehen waren und von dort aus zum Bauernhof zu gelangen. In der heimischen Bibliothek hatte er über die Heldentaten von Bergsteigern gelesen, die durch die Eroberung der wichtigsten Gipfel der Alpen berühmt geworden waren, und in diesen Momenten fühlte er sich wie einer von ihnen... So fing er dann, nachdem er den Pfad verlassen hatten, den Aufstieg auf der linken Seite an, um zu einem Felsschnitt zu gelangen, von dem ihm die Spuren der wilden Tiere die Richtung aufzeigten. Er ging ruhig und mit Umsicht vor, bis zur ersten Felsspitze, von dieser zu einer anderen ... Plötzlich ein Schrei und ein schrecklicher Sturz rückwärts! Nachdem er seine Sinne wiedererlangte, betäubt vom Aufprall und dem Schreck, fühlte er überall einen großen Schmerz und beobachtete seine zerschlagenen Beine, mit den Knöcheln, die zusehend anschwollen. Er begann zu schreien, aber seine unaufhörlichen Rufe wurde vom Wind weggetragen und blieben unbeantwortet. Niemand konnte ihn in dieser unwegsamen Einöde hören. Er nahm seine ganzen Kräfte zusammen und beschloss langsam hinunterzukriechen, zumindest bis zum Pfad. Zu diesem Zeitpunkt fand das Fest in Piazze mit heiterem Trubel und freudigem Treiben statt. Die Freundinnen fragten sich enttäuscht, warum Emilio nicht ankam... vielleicht hatte er trotz der Versprechungen seine Meinung geändert und war zu Haus am See geblieben. Erst am Abend begann sich die Familie, als sie ihn nicht zurückkehren sah, ernsthaft Sorgen um ihn zu machen. Die Familie wusste von seinem Ziel, aber nicht welchen Weg er nehmen wollte, so dass am Morgen eine Gruppe seine Spuren auf dem logischsten Weg zurückverfolgte, in der Hoffnung, dass er einfach in Piazze übernachtet hatte. Als sie im Palast von Rasone ankamen, wurde ihnen bestätigt, dass er vorbeigekommen war, denn er hatte dort angehalten, um sich ein bisschen zu erfrischen; von Briano aus folgten sie den Schildern und stiegen bis zur Mündung des Premaur hinauf und zum Bauernhof hinab, aber hier mussten sie leider erfahren, dass er nicht angekommen war. Als sie zurückkehrten, suchten sie genauer, achteten auf Spuren seiner Passage und riefen wiederholt seinen Namen, aber vergeblich. Sie nahmen die Suche auch am nächsten Tag voller Hoffnung wieder auf, die aber nach und nach verschwand…. Erst nach einigen Tagen, als sie von der Spitze des Comer-Gipfels aus die unterhalb liegenden Klippen mit einem Fernglas kontrollierten, entdeckten sie schließlich den hellen Fleck von Emilios weißem Hemd.

*** *** ***

Jahre und Jahrzehnte vergingen, um das Jahr 2000 herum zogen immer mehr Menschen aus der Berggegend weg und der Pfad des Pas dèl Luf wurde für die wenigen, die sich noch an ihn erinnerten, zu einem fast mythischen Gebilde.  Frau Candida, die historische Pächterin der Taverne von Muslone, besaß eine schwache und furchtsame Erinnerung an diesen Weg zwischen den Felsen. Sie sprach mit Respekt darüber, während wir auf dem Rückweg von unseren Inspektionen, bei denen wir die Wege des Territoriums kartographierten, in ihrem rustikalen Anwesen, das keinen Unterschied zwischen Privathaus und Taverne machte, bei ihr einkehrten. Seit einiger Zeit breitete sich der Wald auch auf dem Streifen direkt oberhalb des Dorfes aus, auf dem früher Feldfrüchte angebaut wurden; ein Feuer hatte einige Jahre zuvor die Pflanzen austrocknen lassen, so dass die neuen Triebe direkt als Wurzelbrut wuchsen und damit die Pfade vernichtete, so viele Felssteine waren eingestürzt, es wäre Wahnsinn, diesen Weg zu suchen, warnte sie uns kopfschüttelnd. Aber genau das war die Herausforderung: Keiner erinnerte sich mehr daran, von wo aus man hochgehen musste und wir wollten es unbedingt herausfinden! Wir achteten genauestens auf die Spuren, die auf dem Boden hinterlassen wurden und gingen der Vegetation aus dem Weg und nach mehreren gescheiterten Versuchen (einige Umwege führten uns von der Straße ab...) erreichten wir schließlich die Bergspitze namens Dòs da Te (die Ältesten erinnerten sich daran und sagten uns, dass der Name wahrscheinlich daher rührte, dass an diesem Ort die Netze gespannt waren, um vorbeiziehende Vögel zu fangen, im Dialekt „le tese“ genannt...), aber hier hörten unsere Nachforschungen auf. Danach gab es nur noch Felsen und Geröll, keinen Hinweis auf einen Weg. Wir versuchten es noch einmal von oben, indem wir von Briano herabstiegen, uns vorsichtig bewegten und Richtung Dòs gingen, den wir in der Ferne unter uns sahen. Manchmal tauchte ein Pfad auf, dann wieder nur Steine und Gestrüpp, die Neugier, eine dunkle Vertiefung einer scheinbar zwischen den Felsen hängenden Höhle zu erreichen, leitete uns. Es gelang uns schließlich den Verbindungsweg zu vollenden, aber es einen Pfad zu nennen, war übertrieben, wer weiß, wo der wirkliche Pfad entlangführte... Wir beschlossen, dass es nicht angebracht war, weiterzugehen. Einige Jahre später wiederholten wir den Weg zur Höhle zwischen den Felsen, indem wir Freunde der Höhlenforschergruppe dorthin begleiteten, in der Hoffnung, dass sich im Inneren eine Schlucht öffnen würde, deren Erforschung sich lohnen würde... Wir kamen unter großen Schwierigkeiten ganz in die Nähe und kurz davor machten wir mit großem Erstaunen die Entdeckung! Unten, zwischen diesen Felsen, sahen wir einen Grabstein mit der Inschrift:
Im Gedenken an
Emilio Parisini im Alter von 23 Jahren,
Opfer seiner Tapferkeit,
5. August 1911


Von dem was vor vielen Jahren geschehen war, wussten wir nichts… was hatte ein Grabstein an diesem vergessenen Ort zu suchen? Neugierig gingen wir ins Dorf hinunter und versuchten bei den Erben der Familie Parisini an Informationen zu kommen, die uns an einen alten Verwandten verwiesen. Er erinnerte sich noch gut an diese Episode und beschrieb, wie der Junge, leblos und ohne Schuhe, auf dem Senter dèl Luf in dieser trostlosen Gegend gefunden wurde. Emilio starb auf der Suche nach seinen Träumen; einige Jahre später hätte er, wenn er es überlebt hätte, die Schrecken des tragischen Krieges von '15-18 erleiden müssen..., vielleicht war es für ihn besser so... Mit dem Fund des Grabsteins hatten wir unsererseits den Beweis, dass der Weg genau an dieser Stelle verlief und es für uns daher möglich war, unseren eigenen Traum zu verwirklichen. Wir arbeiteten leidenschaftlich daran, Äste und Sträucher zu schneiden, machten Grabungen und hackten unaufhörlich, um die unzugänglichsten Stellen zu sichern – und endlich war die Wiederherstellung des Weges geschafft und groß war die Freude, den Pfad zu neuem Leben erweckt zu haben und ihn mit anderen zu teilen. Auch jetzt noch, am ersten Samstag im August, wird in Piazze das schlichte Fest der Madonna della Neve gefeiert, das Fest, das Emilio sich nur vorstellen konnte. Es ist immer ein eindrucksvolles Erlebnis, daran teilzunehmen, auch wenn nur wenige Menschen die Tradition wiederholen und keiner mehr Erinnerungen an den jungen Mann hat, der so lange erwartet wurde und nie wieder unter den Lebenden auftauchte.

Ich danke meinen Freuden Fabio Castellini und Mario Nisoli, die das Abenteuer mit mir geteilt haben.
Illustration von meinem Freund Lino Maceri

Franco Ghitti

Auszug aus der Facebook-Seite "Bassa via del Garda e Dintorni".